Walter Yu | AArtist-In-Residence-Stipendium

In Walter Yus Bildern herrscht oft eine ahnungsvoll-unheimliche Atmosphäre vor. Seine Tuschearbeiten werden zu einer Art Seelenlandschaft. Oft findet sich in ihnen das Symbol der nächtlichen unsicheren Straße oder des gefahrvollen Weges – und die vermittelte Realität ist beängstigend und bedrohlich.

Von den in die Szenen hineingestellten Figuren, Einzelpersonen, Paaren oder Gruppen geht oft eine Erwartungshaltung aus – so als erwarten sie vom Betrachter der Motive Antworten auf ungelöste alte aber bis heute existentielle Fragen. Besonders die Einzelfiguren wirken ungeschützt, unverortet und auf sich selbst verwiesen. Emotionale Momente – Einsamkeit, Verletzlichkeit, Verzweiflung, abgrundtiefer Pessimismus – aber auch Momente des Aufbegehrens, der Sehnsucht und der Hoffnung schwingen stets mit. Solche, auf individuelle oder gesellschaftliche Stimmungen bezogenen Ambivalenzen materialisieren sich auch in Walter Yus Keramiken.

André Lindhorst, 2018

In seinem Konzept lässt sich der Künstler von der Literatur und Lyrik, aber auch von der Bildkunst aus ganz unterschiedlicher Epochen und Kulturen inspirieren. So spielen chinesische Gedichte aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. ebenso eine Rolle, wie die Reisetagebücher eines deutschen Soldaten aus dem zweiten Weltkrieg – aber auch bekannte Werke aus der Kunst-geschichte, wie etwa Théodore Géricaults „Das Floß der Medusa“ von 1819.

Das Thema der gegenwärtigen Flucht- und Wanderungsbewegungen wird Walter Yu in Bezug zu fünf historischen Reisen, darunter Missions-, Forschungs- und Entdeckungsreisen stellen.

Reisen:

1. Moses führt die Israeliten aus der Knechtschaft Ägyptens (2. Buch Mose / Exodus).
   1446 oder 1250 v. Chr.
2. Die Reisen des chinesischen buddhistischen Mönchs Faxian, der angeblich seit 399 dreißig Länder durchwanderte und 412 nach Indien reiste, um den Buddhismus zu
   studieren und buddhistische Texte nach China zu bringen.
3. Die Forschungsreisen des Muslimen Ibn Battuta, der im 14. Jahrhundert mehr als 120.000 km durch die gesamte islamische Welt und darüber hinaus zurücklegte.
4. Die Reisen des größten chinesischen Seefahrers Zheng He, der als Befehlshaberund Navigator der chinesischen Expeditionsflotte zwischen 1405 und 1433 sieben große Expeditionen in den Pazifik und den indischen Ozean unternahm.
5. Die Reise des italienischen Seefahrers Christoph Kolumbus, der im Jahr 1492 Amerika entdeckte.

Walter Yus künstlerische Auseinandersetzung mit dem übergeordneten Thema Wanderung changiert zwischen Apokalypse und Utopie und zwischen Wirklichkeit, Fiktion und Vision. Dieser Aspekt kommt auch in seinen Keramik-Skulpturen, die der Künstler für das Projekt plant, zum Ausdruck. Sie stehen ebenfalls in Bezug zur Literatur, zumal sich Walter Yu von fantastischen Erzählungen des argentinischen Schriftstellers Jorge Luis Borges hat anregen lassen – wie beispielsweise „Die Bibliothek von Babel“, „Die zwei Könige und ihre zwei Labyrinthe“ und „Die Unsterblichen“.

Text: André Lindhorst